Mailand 1882: Als Gaspare Campari, der Erfinder des berühmten Bitterlikörs, völlig unerwartet stirbt, übernimmt seine Frau Letizia erfolgreich die Leitung des Unternehmens und des berühmten Künstler-Cafés in der Galleria Vittorio Emanuele. Wenige Jahre später schickt die mutige Witwe ihren Sohn Davide nach Bordeaux, wo er bei einem Likörhersteller in die Lehre gehen soll. Anstatt sich seiner Ausbildung zu widmen, lässt sich der junge Heißsporn jedoch lieber zu einer Reise nach Paris überreden, wo er sich Hals über Kopf in die Soubrette Leda verliebt. Nach einem Jahr Bohème-Leben kehrt Davide schweren Herzens nach Mailand zurück. Fortan möchte er sich ganz auf seine Familie und die Leitung der Likörfabrik konzentrieren. Doch dann steht Leda vor seiner Tür – mit der Bitte, ihr in einer schrecklichen Lage zu helfen.
Obwohl inzwischen hierzulande wohl öfters ein anderes rotes Getränk der Konkurrenz getrunken wird, kommt man um Campari nicht vorbei. Das berühmte Getränk wird auch besungen, 1977 zum ersten Mal. Seither wurde "Campari Soda" oft gecovert, zuletzt erreichte der Song 2006 die Schweizer-Single-Hitparade und schaffte es sogar auf Platz 3. Campari Soda oder Campari Orange ist Standardgetränk einer jeder Bar. Und auch ich bestelle in einem meiner Lieblingsrestaurants gerne einen Campari zum Aperitif. Als Erfinder des Aperitifs gilt die Familie Campari, die dieses Ritual in ihrem Café am Ende des 19. Jahrhundert in Mailand einführte.
Als ich sah, dass deren Firmengeschichte in einem Roman behandelt wird, war klar, dass ich diesen Roman lesen muss. Das Cover, das mit Orangenblüten, Orangenscheiben und zwei Gläsern Campari verziert ist, gefällt mir gut. Besser als das Cover des italienischen Originals, das wohl ein Bild aus einer Campari-Reklame zeigt. Davide Caspari, der zweitälteste Sohn des Gründers, hatte sich als einer der ersten in Italien zu Text- und später zu Bildreklame in Zeitungen entschieden. Doch bis dies soweit war, verging einige Zeit.
Der Roman beginnt viele Jahre früher, als Davides Vater Gaspare starb und erzählt zudem in Rückblicken die Gaspares Geschichte bis zu dessen Tod. Gaspare hatte klare Ansichten, und entschied wo der Platz seiner Kinder, vor allem jener der Söhne ist. Egal, ob sie das auch so sahen oder gar den Talenten desjenigen entsprach oder nicht. Die beiden ältesten Söhne fühlten sich nicht wohl an der Stelle, an der ihr Vater sie sah. Ob es ihnen gelang ihre Träume zu verwirklichen oder ob sie für die Familie und die Firma alles aufgaben, erzählt Silvia Cinelli in "Bittersüsse Träume".
Bittersüss kann man das Leben von Davide bezeichnen, zumindest so wie es die Autorin geschildert hat. Sie erzählt, wie Davide das Leben entdeckt, jung wie er ist, manchmal forsch und manchmal zu scheu, sein Frankreichaufenthalt, wie er zurück nach Mailand kommt und die Leitung der Firma übernimmt, manchmal egoistisch - wie sein jüngerer Bruder Guido es wohl empfunden hat - aber immer mit guten und für seine Zeit fortschrittlichen Ideen, wie bei der Werbung, die er schalten liess.
Es war interessant, das Buch aus der Sicht von Davide zu lesen. Männer als Protagonisten kommen gerade bei Firmengeschichten sehr wenig vor, oft sind es die Frauen, damals eher im Hintergrund aktiv, obwohl sie die Fäden in der Hand hatten, die nun in vielen Büchern vorgestellt werden. Dies ist in "Bittersüsse Träume" anders, auch weil Gaspares Frau Letizia zu wenig hergibt und die eine Frau, die Davide seit Kindertagen geliebt hat, für ihn unerreichbar blieb.
Über die tatsächliche Familie Campari selbst ist gar nicht so viel bekannt, weshalb sich die Autorin Freiheiten herausgenommen hat und mit dem, was bekannt ist und ihrer Fantasie einen unterhaltenden und informativen Roman zu schreiben. Im Nachwort schreibt Silvia Cinelli, welche Figuren und Szenen sie dazu erfunden hat.
Neben der Familiengeschichte greift die Autorin auch das Zeitgefühl der 1900er auf. Die Industrialisierung, die italienische Politik und die vielen Demonstrationen, die mit beidem verbunden war. Unterschiedliche Ansichten und Streitereien dazu gab es auch innerhalb der Familie. Erlebnisse der Gäste im Café runden den Roman ab.
Fazit: Ein eher ruhiger und sachlicher Roman über die Familie Campari, dennoch höchst informativ und unterhaltend erzählt. Wie wärs, ihn bei einem oder mehreren Gläsern "Bitter nach holländischer Art", wie man den Campari zuerst nannte, zu lesen?
4 Sterne.